In Zeiten des Fachkräftemangels stehen Unternehmen vor der Herausforderung, nicht nur qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber zu finden, sondern auch diejenigen auszuwählen, die zur Unternehmenskultur passen und langfristig bleiben.
Heute beleuchten wir, wie sich die Methoden und Anforderungen in der Personalbeschaffung gewandelt haben und welche neuen Kompetenzen nun im Mittelpunkt stehen. Dabei geben uns die Expertinnen Susanne Kullmann von scan.up & Ina Everts von Screenfact spannende Einblicke in die Welt der Personaldiagnostik und Personalrekrutierung und berichten aus der Praxis.
Welchen spezifischen Herausforderungen stehen Unternehmen aktuell bei der Rekrutierung von Personal aufgrund des Fachkräftemangels gegenüber?
Ina Everts: „Unternehmen stehen derzeit vor der Herausforderung, überhaupt qualifizierte Bewerbungen zu erhalten, da der Pool an Fachkräften geschrumpft ist. Selbst eingehende Bewerbungen machen die Auswahl der besten Kandidatinnen und Kandidaten schwierig, da es oft an den nötigen Fähigkeiten oder der passenden Unternehmenskultur mangelt. Zudem kämpfen viele Firmen mit einer hohen Absprungquote im Bewerbungsprozess. Erfolgreiche Rekrutierung erfordert daher eine Anpassung der Strategien an die dynamischen Marktbedingungen, um die richtigen Talente zu gewinnen und langfristig zu binden.“
Susanne Kullmann: „Der Arbeitsmarkt wird immer mehr von Arbeitnehmer:innen dominiert. Die Besetzung spezialisierter Positionen gestaltet sich zudem schwierig, da die Anforderungen an Fachkräfte oft schneller wachsen als ihre Ausbildung. Zudem müssen Unternehmen divers und inklusiv sein, um wettbewerbsfähig zu bleiben und ein attraktives Arbeitsumfeld zu bieten.“
Wie hat sich der Einstellungsprozess von potenziellen Kandidatinnen und Kandidaten in den letzten Jahren verändert, insbesondere in Bezug auf die Methoden und Verfahren, die Unternehmen dafür heutzutage nutzen?
Susanne Kullmann: „Wir merken, dass sich ein Bewusstsein dafür entwickelt hat, dass es sich langfristig auszahlt, in einen validen und gut strukturierten Auswahlprozess zu investieren. Unternehmen suchen vermehrt nicht nur nach Kandidatinnen und Kandidaten, die alle Anforderungen bereits erfüllen, sondern auch nach solchen mit Potenzial für zukünftige Entwicklungen. Der Fokus liegt also zunehmend darauf, ob Bewerberinnen und Bewerber das Potenzial für weiteres Wachstum im Unternehmen mitbringen.“
Ina Everts: „In den letzten Jahren hat sich der Einstellungsprozess von potenziellen Kandidatinnen und Kandidaten deutlich weiterentwickelt. Immer mehr HR-Professionals verfügen über eine fundierte Ausbildung, beispielsweise in Wirtschaftspsychologie, und bringen tiefere Kenntnisse in Personal- und Eignungsdiagnostik mit. Diese Fachkenntnisse führen dazu, dass der Fokus im Einstellungsprozess verstärkt auf die Persönlichkeit und die Kompetenzen der Bewerber:innen gelegt wird, anstatt ausschließlich auf deren fachliche Qualifikationen.“
Welche Fähigkeiten und Kompetenzen sind im Vergleich zu vor einigen Jahren stärker in den unternehmerischen Fokus gerückt, insbesondere in Bezug auf den Cultural Fit und die Bedeutung von Soft Skills?
Ina Everts: „Der Cultural Fit ist entscheidender geworden: Unternehmen suchen Mitarbeitende, die nicht nur fachlich, sondern auch kulturell ins Team passen. Employer Branding und die Ansprache von Talenten, besonders der Generation Z, rücken in den Fokus. Diese Talente schätzen eine Unternehmenskultur, die ihre Werte teilt und Raum für persönliche sowie berufliche Entwicklung bietet.“
Susanne Kullmann: „Unternehmen legen heute mehr Wert auf Lernbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein und die aktive Mitgestaltung von Zielen als auf reine Fachqualifikationen. Mut aufbringen, eigene Entscheidungen treffen und Risiken eingehen, all dies rückt in den Vordergrund. Dies spiegelt den Wandel zu moderneren Führungskulturen wider, in denen Mitarbeitende ermutigt werden, Verantwortung zu übernehmen und das Unternehmen aktiv mitzugestalten.“
Welche Kriterien sind bei der Auswahl eines Personaldiagnostik-Tools wichtig? Sollte das Tool eher für Anwender geeignet sein, die praktische und schnelle Lösungen bevorzugen, oder für solche, die detaillierte und tiefgehende Analysen durchführen möchten?
Susanne Kullmann: „Eine ausführliche Analyse liefert tiefgehende Einblicke und ermöglicht präzise Gutachten. Sie bietet eine solide Basis für strategische Entscheidungen, besonders für diejenigen, die detaillierte Daten für komplexe Fragen und langfristige Entscheidungen benötigen.“
Ina Everts: „Eine kurze, vorinterpretierte Analyse ist leicht verständlich und schnell umsetzbar. Die Ergebnisse können sofort genutzt werden, ohne, dass tiefes Fachwissen benötigt wird. Das ist ideal für diejenigen, die schnelle Entscheidungen treffen müssen.“
Warum sind Assessment-Center und Diagnostikverfahren unerlässlich, um den „Perfect Fit“ bei der Stellenbesetzung im Einstellungsprozess zu gewährleisten?
Ina Everts: „Assessment-Center und Diagnostikverfahren garantieren die optimale Stellenbesetzung, verhindern teure Fehlentscheidungen und ersetzen subjektive Urteile durch objektive Daten. Durch den Einsatz von Diagnostikverfahren in Assessment-Centern können Potenziale objektiv erfasst werden, sozial erwünschtes Antwortverhalten minimiert werden und bei Einstellung direkte Hinweise zur gezielten Personalentwicklung liefern.“
Susanne Kullmann: „Assessment-Center und Diagnostikverfahren helfen nicht nur bei der Auswahl Einzelner, sondern auch bei der Teamzusammenstellung. Sie prüfen, ob Kandidaten wirklich ins bestehende Team passen und nicht nur im Vorstellungsgespräch überzeugen konnten. Außerdem testen sie die Krisenresistenz der Bewerber:innen, um sicherzustellen, dass sie auch schwierige Zeiten meistern können.“
Worauf sollte geachtet werden, um Risiken beim Einsatz von Diagnostik in der Personalgewinnung zu vermeiden?
Susanne Kullmann: „Es zählt nicht nur, welches Tool man verwendet, sondern wie man es nutzt. Diagnostik erfordert verantwortungsvollen Umgang mit Informationen über Menschen, ihre Fähigkeiten und Eigenschaften. Vertraulichkeit und präzise Nutzung sind entscheidend, um einen fairen und validen Recruiting-Prozess zu für die Kandidaten zu gestalten. Auch über die Stellenbesetzung hinaus sollten die Ergebnisse differenziert ausgewertet werden, um Diagnostik als wertvolles Werkzeug für langfristige Mitarbeiterentwicklung statt als oberflächliches Auswahlkriterium zu nutzen.“
Ina Everts: „Beim Einsatz von Diagnostikverfahren im Einstellungsprozess ist es entscheidend, dass diese gut begleitet werden. Die Auswertung der Ergebnisse ist nicht nur für die Entscheidungsträger wichtig, sondern auch für die Kandidatinnen und Kandidaten selbst. Daher ist es unerlässlich, dass das HR-Team eine entsprechende Ausbildung erhält, um die Diagnostik richtig zu interpretieren und anzuwenden.“
Welche Themen muss der Bereich Diagnostik kurz- und langfristig in den Fokus nehmen?
Susanne Kullmann: „Die Diagnostik muss psychologische Konstrukte und Kompetenzen ständig überprüfen und anpassen, sowohl kurz- als auch langfristig. Eine zentrale Frage ist, ob Definitionen wie Führungskompetenz und Kommunikationsstärke heute, in der Vergangenheit und in Zukunft gleichbedeutend sind. Kurzfristig geht es darum, Konzepte regelmäßig zu evaluieren und auf aktuelle Anforderungen hin anzupassen. Langfristig muss Diagnostik proaktiv Kompetenzen weiterentwickeln, um ihre Relevanz zu sichern. Dafür ist ein tiefes Verständnis notwendig, warum bestimmte Kompetenzen an Bedeutung gewinnen oder verlieren und wie sie künftig neu definiert werden müssen.“
Wie bist du zum Bereich Diagnostik gekommen, und was fasziniert dich jeden Tag an deiner Arbeit in diesem Feld?
Ina Everts: „In früherer Zusammenarbeit mit einer Executive Search Beratung lernte ich, Persönlichkeit, Verhalten und Individualität wissenschaftlich fundiert zu analysieren. Die Möglichkeit, menschliches Verhalten differenziert zu verstehen und dieses Wissen praktisch anzuwenden, hat mich von Anfang an fasziniert, wodurch ich mich zu einem Master in Wirtschaftspsychologie entschied. Jeden Tag begeistert mich, wie Diagnostik die Einzigartigkeit von Menschen erkennt und ihre persönliche sowie berufliche Entwicklung unterstützt.“
Susanne Kullmann: „Für mich ist es die perfekte Kombination: Psychologisch mit Menschen arbeiten und ihre Stärken optimal nutzen – für sich selbst, ihr Umfeld und ihren Job. Dabei faszinieren mich die Parallelen und Muster, die ich entdecke, während doch jeder Mensch einzigartig bleibt. Es begeistert mich, Menschen zu begleiten, neue Kompetenzen zu entdecken und Blockaden zu lösen.“