Warum erscheint uns unsere Gesellschaft derzeit so kraftlos – und was können wir alle dagegen tun? Sind es die vielen Krisen? Sind es die für den einzelnen unüberwindbaren Bedrohungen von Klimawandel und künstlicher Intelligenz? Im Interview spricht Joachim Pawlik, Gründer und Inhaber der Unternehmensberatung Pawlik Consultants, darüber, wie wir es schaffen können, die Zukunft kraftvoll zu gestalten.
Schön, dass wir wieder einmal zusammensitzen! Das ist nun bereits unser viertes gemeinsames Magazin – und das vierte große Thema, das wir gemeinsam aufbereiten. Nach „Laut & leise“, „Hamburg mit Gefühl“ (oder die neue Empathie, wie Sie es genannt haben) und „Ich oder wir“ nun also „Kraftvoll die Zukunft gestalten“. Wie passt Kraft zu „leise“ und „Gefühl“? Ist das nicht eher ein Widerspruch zu den bisherigen Schwerpunkten?
Joachim Pawlik: Das glaube ich nicht. Man kann auch leise und mit Gefühl kraftvoll sein. Mit dem Thema „Kraftvoll“ geht es uns um die Energie, die wir brauchen, um das Leben zu gestalten. Trotz aller Herausforderungen und Krisen morgens mit der Lust aufzustehen, die Zukunft in Angriff zu nehmen.
Aufstehen ist ein gutes Stichwort: Ich bin heute Morgen aufgestanden und habe mich so richtig schlapp gefühlt. Wenn ich am liebsten liegen bleiben würde – wie kann ich da noch kraftvoll die Zukunft gestalten?
Ich kenne Ihren Lebensstil nicht und weiß nicht, ob Sie heute Nacht genug geschlafen haben. Aber generell beobachten wir etwas – und das war auch der Grund, warum wir uns mit diesem Thema beschäftigen: Wir sehen, dass die Menschen zunehmend erschöpft sind. Das mögen ein wenig die Nachwirkungen der Corona-Pandemie sein. Da haben sich alle wahnsinnig angestrengt, diese Ausnahmesituation zu bewältigen. Dann war das gerade halbwegs geschafft, da überrollte uns alle auch schon die nächste Krise – der fürchterliche Angriffskrieg der Russen auf die Ukraine und die damit verbundene Bedrohung unserer Sicherheit. Es folgten die wirtschaftlichen
Probleme … Wir haben im vergangenen Jahr mit all unseren Kunden, Kollegen und Mitarbeitern gesprochen, und fast alle haben uns gefragt: Wie sollen wir das jetzt auch noch alles schaffen? Nach Corona wünschten sich die meisten eine Rückkehr zum „normalen Leben“. Aber die gab es nicht …
Sondern es folgte ein Leben mit noch mehr Krisen: Zum Krieg in der Ukraine kamen solche für den Einzelnen schwer fassbaren Bedrohungen wie die Klimakrise und eine wie auch immer geartete Zukunft mit künstlicher Intelligenz. Wie spielt das zusammen? Was macht das mit den Menschen?
Ich möchte zwischen zwei Arten von Krisen differenzieren. Die Corona-Pandemie hat uns alle belastet, gar keine Frage. Aber wir hatten immer das Gefühl, dass wir die Krise irgendwie bewältigen können und am Ende vielleicht sogar mit mehr Kraft daraus hervorgehen. Viele von uns haben sogar so etwas wie ein Erfolgserlebnis gehabt: Diese Krise haben wir gemanagt! Die Klimakrise und auch KI lassen die meisten von uns dagegen eher hilflos zurück. Wie sieht unsere Welt in drei bis fünf Jahren aus? Dazu gibt es zwar Prognosen. Aber was genau bedeuten sie konkret für unser Leben? Welchen Einfluss hat das alles auf uns? Klima und KI stellen die Grundfeste unserer
Zukunft infrage.
Ist es nicht auch die Vielzahl der Krisen, die so viel Kraft kostet?
Absolut! Das hat auch etwas mit der Vernetzung unserer Welt und der digitalen Berichterstattung zu tun. Ganz egal, wo auf der Welt heute irgendetwas passiert: Wir bekommen es mit. Strandet ein Frachter im Suezkanal, erfahren wir es sofort und hören auch noch,
dass er wichtige Teile für ein deutsches Werk transportiert. Heute erreichen uns extrem viele Probleme, von denen wir früher im Zweifel kaum etwas mitbekommen haben. Die Bilder und Nachrichten sind überall sofort verfügbar.
Ist die Unlust, sich mit aller Kraft einzubringen, nicht auch eine Generationenfrage? Wir erleben bei jungen Menschen zunehmend, dass der nächste Karriereschritt nicht unbedingt das Maß der Dinge ist, sondern eher Lebensqualität, Sinn und die berühmte Work-Life-Balance entscheidend sind.
Das wird häufig über die sogenannte Generation X behauptet. Wenn ich ganz ehrlich bin: Ich erlebe auch in der jungen Generation genügend Menschen, die eine große Lust haben zu arbeiten und hoch engagiert sind. Ich bemerke das bei meinen Söhnen. Die sagen mir ganz klar: So wie du möchte ich nicht unbedingt leben. Es ging ja in unserer Generation viel um „höher, schneller, weiter“. Um Erfolg. Der jungen Generation geht es vielleicht mehr um Nachhaltigkeit und natürlich um Lebensqualität. Aber auch sie wollen etwas aus ihrem Leben machen.
Woraus schöpfen Sie persönlich Kraft? Nicht nur als Unternehmer, sondern auch als früherer Leistungssportler?
Als Sportler habe ich immer Kraft geschöpft aus dem nächsten Spiel am Wochenende, aus dem Wettkampf, der bevorsteht, und auch aus einer Art von täglicher Messbarkeit dessen, was ich tue. Wenn ich mein Ziel abends erreicht habe, war ich zufrieden. Wenn nicht, habe ich mich gefragt: Was lernst du daraus, damit du es morgen besser machst? Bei allem, was wir tun, ist es ganz wesentlich, dass wir damit ein sichtbares Ergebnis erzielen. Das ist auch einer der Ansätze, wie wir uns mit dem Thema „kraftvoll“ beschäftigen.
Das eine ist, wie Sie selbst Kraft schöpfen. Aber die große Herausforderung für Sie als Chef ist doch auch: Wie geben Sie Kraft weiter?
Ich sorge dafür, dass jeder Mitarbeiter seinen persönlichen Beitrag für das große Ganze leisten kann, ihn selbst erkennt und sein Beitrag anerkannt wird. Das geschieht durch klare Jobbeschreibungen, übertragen von Verantwortung und vor allem durch sehr häufiges, kleinteiliges und differenziertes Feedback. Kraft entfaltet sich bei psychologischer Sicherheit, es ist immens wichtig zu wissen, dass man anerkannt und eingebunden ist.
Das kann man ja an sich selbst auch beobachten.
Ja, ich denke, das ist eine der Kernfacetten von Unternehmenserfolg. Deshalb ist es auch so problematisch, welchen Purpose, also welchen Sinn, viele Unternehmen verfolgen. Sie wollen alle die Welt retten.
Aber das ist doch nicht das Schlechteste. Ist der Sinn des eigenen Tuns nicht elementar?
Sinn ist gut. Aber wenn wir mal ehrlich sind, die wenigsten Unternehmen retten die Welt dann auch. Der Einzelne kann mit seiner Arbeit also überhaupt nichts zu dem großen Ziel beitragen. Er gehört nicht zum Team „Weltretter“. Und dann findet das Gegenteil von dem statt, was man mit der Sinngebung eigentlich erreichen will: Die Bindungskräfte im Unternehmen schwinden.
Die Mitarbeiter gehen nach Hause und sagen: Das ist nicht meine Firma, denn ihrem großen Sinn leiste ich keinen Beitrag. Völlig ausgehöhlt wird der Sinn, wenn im Innern des Unternehmens ein Streit nach dem anderen darüber tobt, wer befördert wird und mehr Geld oder mehr Einfluss bekommt. In Studien hat man festgestellt, dass die Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Unternehmen, die erklärtermaßen Gutes tun – also etwa medizinische Produkte, saubere Energie oder sauberes Wasser herstellen – nicht unbedingt höher ist als die von Mitarbeitern in der Rüstungsindustrie. Der Sinn ist nicht unerheblich, aber die Anerkennung der eigenen Tätigkeit, zu wissen, dass man einen Beitrag leistet, ist für die eigene Kraft wichtiger.
Wir haben gerade über die großen Krisen gesprochen, die Krisen, bei denen wir kein Ende sehen oder keine wirkliche Beherrschbarkeit. Wie ordnen Sie das Thema Künstliche Intelligenz in dieser Hinsicht ein?
Künstliche Intelligenz wird die Welt fundamental verändern. Und zwar in allen Bereichen. Daher trägt KI zu der aktuellen Orientierungslosigkeit leider erheblich bei.
Das klingt jetzt nicht gerade mutmachend …
Vielleicht. Andererseits bietet KI wie jede große Veränderung der vergangenen Jahrhunderte enorme Chancen für unsere Entwicklung. Zu unserer Firmengruppe gehört der digitale Personalentwickler Pinktum mit Sitz in Hamburg. Alleine, wie wir hier mit künstlicher Intelligenz das Lernen auf die individuellen Bedürfnisse ausrichten können, ist ein riesiger Fortschritt. Die neuen Lernmethoden ermöglichen es den Menschen, sich schneller anzupassen, besser durch Krisen zu kommen und den Wandel für sich und ihr Unternehmen zu nutzen. Es gibt so unfassbar viele positive Aspekte, dass ich es schwer zu ertragen finde, zu lamentieren oder sich in einem Ohnmachtsgefühl zu ergeben. Da hat eine Entwicklung begonnen, die halten wir nicht mehr auf. Also müssen wir uns damit beschäftigen, wie wir sie positiv und sinnvoll für die Menschen einsetzen. Meiner Meinung nach müssen wir uns angesichts einer solchen Veränderung grundsätzlich damit beschäftigen, was unsere Rolle in der Arbeitswelt der Zukunft ist. Was ist der sogenannte USP des Menschen im Gegensatz zu KI? Wo ist unser Platz morgen, wenn sich die Technik so rasant weiterentwickelt?
Das ist eine gute Frage. Bislang wurden im Laufe der Geschichte eher eintönigere Jobs durch Technik ersetzt. Mit Beginn der Industrialisierung erledigten Maschinen die Jobs von einfachen Arbeitern, dann Roboter die Aufgaben von Facharbeitern und schließlich Computer im Zuge der Digitalisierung die sich wiederholende Büroarbeit. Jetzt macht sich künstliche Intelligenz daran, den kreativ arbeitenden Menschen zu ersetzen. Das ist doch für gestaltende Menschen absolut furchterregend …
Verständlich! Aber eines wird KI nicht leisten können: Das ist das Erfassen von Individualität auch im Kontext einer Wertegemeinschaft, eines Teams. Der Mensch kann in einem kurzen Gespräch mit seiner Empathie Heimat schaffen, ein Team bilden. Diese Fähigkeiten sollten wir stärken und davon profitieren. Damit wird das alte Verständnis überholt, dass man in einem Unternehmen in Konkurrenz zu den Kolleginnen und Kollegen um eine Karriere kämpft. Wir sollten mehr Gemeinschaft erzeugen, um zusammen für unsere Werte einzustehen. Daraus entsteht Kraft.
Das würde bedeuten, KI unterstützt uns – und der Mensch ist das Bindeglied, das am Ende alle und alles zusammenbringt?
So könnte es kommen. Eine Gemeinschaft zu bilden ist elementar. Dafür gibt es ein faszinierendes Beispiel: Roseto. Da war eine Gemeinschaft ausgewanderter Italiener, die in ein Dorf in Pennsylvania in den USA lebten. Diese Gemeinschaft geriet irgendwann in den Fokus der Mediziner, weil sie deutlich länger lebten als andere. Das Ergebnis der umfangreichen Untersuchungen war: Sie ernähren sich nicht gesund, sie trinken Alkohol, machen reichlich ungesundes Zeug und vor allem keinen Sport – und lebten dennoch länger als der Rest der amerikanischen Bevölkerung. „Warum war das so?“ Nach Ansicht der Wissenschaftler lag es an der Gemeinschaft. Bei den Rosetanern freute sich jeder, wenn der andere Erfolg hatte. Da half man den Alten und den Schwachen. Da gab es keine zur Schau gestellte Eitelkeit, wenn man etwas Großes geleistet hatte. Die Gemeinschaft stand im Mittelpunkt. Die Werte, an die wir ja eigentlich auch glauben, wurden dort wirklich gelebt.
Wow! Das klingt nach einem wirklich schönen amerikanischen Traum. Aber ist das Prinzip übertragbar?
Ich glaube genau das! Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass der Gemeinschaft eine wachsende Bedeutung zukommt. In der Gemeinschaft bewältige ich jede Krise leichter – weil ich sie nicht allein lösen muss.
Das sagt sich so einfach, aber wie passt das zu unserer heutigen Arbeitswelt und Lebenswirklichkeit?
Wir müssen uns tatsächlich damit beschäftigen, dass wir neue Kompetenzen für die Arbeitswelt von morgen erlernen müssen. Worin liegt unsere Einzigartigkeit als Mensch? Ich sagte es schon: Empathie und Gemeinschaft sind enorm bedeutungsvoll.
Am Ende hat all das, was Sie beschreiben, nicht nur mit Unternehmertum und Führung zu tun – im Grunde sprechen wir über ein großes gesellschaftliches Thema.
Absolut! Das geht weit über die Führung in Unternehmen hinaus. Das ist eine großegesellschaftliche Herausforderung, die wir gemeinsam angehen müssen. Verstanden. Haben Sie eine Idee, in welche Richtung das gehen könnte? Vielleicht kann ich Ihnen ein Beispiel geben:
Ich habe eine Reihe Interviews mit Mitgliedern der freiwilligen Feuerwehr geführt. Die hat natürlich einen übergeordneten und extrem wichtigen Zweck. Aber ich wollte nachvollziehen, wie dieses starke Engagement der Menschen dort entsteht und auch bleibt – trotz des
Aufwands und der Risiken in diesem Job. Ich glaube, von den freiwilligen Feuerwehren können viele Unternehmen eine Menge lernen.
In den Gesprächen wurde deutlich: Egal, welche Funktion jemand bei der Aufgabe, Menschen zu helfen, hat. Hier weiß jeder, dass seine Aufgabe eine Bedeutung hat. Sei sie auch noch so klein. Sie gehört dazu, damit alles so funktioniert, wie es funktionieren soll.
Foto: AMBB Photography